Adventskalender im Schaufenster


jeden Tag 1 Buch
daraus jeden Tag 1 Textstelle
zu dieser jeden Tag 1 Illustration von Peter Lüthy & Marisa Meroni

1


Kummer aller Art
Mariana Leky
Dumont

Frau Wiese klingelte bei mir und fragte, ob ich Alkohol im Haus habe, sie müsse sich auf ärztlichen Rat volllaufen lassen, damit die Liebe herausfluppen könne. Unter dem Einfluss einer Flasche schweren Rotweins schaffte es Frau Wiese endlich, die Liebe nicht mehr einzuhalten, sondern sich Herrn Schnepp zu offenbaren. Zum Glück rannte sie da sperrangelweit offene Türen ein, und seither gibt es kein Halten mehr. Die Panikattacke in der Strassenbahn ist von gestern, allerdings hat Frau Wiese jetzt angefangen zu rauchen.

2


Liebe ist gewaltig
Claudia Schumacher
dtv

Ich fühle mich seltsam schwerelos, 
ganz geil eigentlich. Mein Körper ist watteweich. Kein Wunder: Aufstehen um 6 Uhr 30, erst mal kalt mit dem Schlauch von Frau Heirich gegen die Wand geduscht werden. Dann zwei Stunden zügig 
spazieren in der Kälte mit den Krebskranken und anderweitig Gebrechlichen, im Anschluss eine gute Stunde heulen, weil man definitiv nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Noch mal kurz diverse 
Suizidmöglichkeiten im stillen Kämmerlein durchspielen, mit ängstlichem Blick auf die Adern des linken Handgelenks den beherzten Schnitt vertagen. Später leicht bedudelt in die Sauna. Jetzt Pause auf der Liege, und was soll ich sagen, bin ganz happy.

3


Anleitung ein anderer zu werden
Edouard Louis
Aufbau

Die Zeit, als ich ganze Nachmittage neben Elena auf der Wiese lag.

Die Zeit, als sie im Kino an meiner Schulter einschlief.

Die Zeit, als das Wissen, dass mein Cousin Dylan und ich am Samstag mit dem Bus in die Stadt fahren würden, mein grösstes Glück war, als dieses Wissen mich durch die Schulwoche trug, das Wissen, dass wir den Nachmittag im Supermarkt verbringen würden, von vierzehn bis achtzehn Uhr, auch wenn wir uns nichts kaufen konnten ausser einer Dose Cola oder Eistee, aber wir waren trotzdem glücklich, umgeben von grenzenlosem Überfluss, von einem grenzenlosen Überangebot an Waren, die wir uns niemals würden leisten können. Wir machten diesen Ausflug jeden Samstagnachmittag und empfanden dabei jedes Mal dasselbe Vergnügen.

Das Bürgertum ging ins Theater und in die Oper, wir träumten vom Supermarkt.
Die Zeit, als meine Mutter mit den Achseln zuckte und sagte, Was haben wir nur für ein Scheissleben.

4


Kati will Grossvater werden
Signe Viška
Elīna Brasliņa
Atlantis

Die Erwachsenen lachen über diese Antwort,
einige ziehen die Augenbrauen zusammen wie haarige Fragezeichen.
Aber die meisten tauschen über Katis Kopf hinweg Blicke aus und sagen: «Das geht vorbei!»


5


Die Pürin
Noëmi Lerch
Verlag die Brotsuppe

Für den Weg zum Stall trage ich die alte Skijacke vom Grossvater. Im Stall tausche ich die Jacke gegen den blauen Kittel und die Wanderschuhe gegen die 
grossen Gummistiefel. An der Stalltür sind über Nacht weisse Schnäuze gewachsen. Das Thermometer zeigt minus zehn, tiefer kann es nicht. Wenn es Schnäuze hat, ist es kälter als minus zehn, sagt die Pürin. 
Ich stehe in der Sattelkammer und fülle die Taschen vom Kittel mit Karamells. Mit Karamells im Mund mache ich mich an die Arbeit.

Wenn ich allein so schnell wäre wie mit dir, sagt die Pürin. Ich stelle mir die Pürin mit vier Armen und vier Beinen vor. Sehe sie wie eine indische Göttin zwischen zwei Kühen sitzen, je ein Paar Arme an einem Euter. Die Hände der Pürin sind riesig. Sie 
haben Furchen und Falten und sehen um Jahre älter aus als ihr Gesicht. Nur jetzt, beim Melken sind sie verwandelt, zärtlich und schön.

6


La nonna La cucina La vita

Die wunderbaren Rezepte meiner Grossmutter
Larissa Bertonasco
Gerstenberg

Endlich hielt der Zug in Genova Bringole. Neugierig öffnete ich das Fenster und lauschte fasziniert dem Gewirr italienischer Stimmen. Ich streckte meinen Kopf hinaus und sah auf den belebten Bahnsteig: Eine dicke Mama zerrte ihr schreiendes Kind hinter sich her, eine junge Frau in einem hellen Sommerkleid küsste einen jungen Mann mit lockigem dunklen Haar, ein kleiner alter Mann in dunkelgrauem Anzug mit einem Zigarillo im Mundwinkel studierte den Fahrplan, ein Arbeiter in farbverschmierter Hose war in seine Zeitung vertieft… Die Menschen warteten geduldig oder ungeduldig, und gingen allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen am Bahnsteig auf und ab. Alles, was ich sah und hörte, vermischte sich mit dem speziellen Duft Italiens. Ich schloss die Augen und atmete eine Luft, die nach starkem Espresso und würzigem Oregano, nach filterlosen Zigaretten, Benzin und Abgasen knatternder Vespas und dem trockenen Staub der Strasse roch.


7

Hotel der Zuversicht
Michael Fehr
Der gesunde Menschenversand

Aus
EIN WISSENSCHAFTLICHES EXPERIMENT
Ein Professor in einem engen schwarzen Samtoverall befindet sich auf einem in bläuliches Tageslicht getauchten Parkdeck. Der Professor ist barfuss, der Rücken des Overalls, der mit einem Reissverschluss versehen ist, steht noch offen. Der Professor hat seine Tochter mitgebracht.

«Kannst du lesen, was dort drüben geschrieben steht, mein süsser Zuckerwürfel?» Die Tochter blickt mit scharfen Augen nach der Schrift über dem Durchgang vom Parkdeck zum vergitterten Treppenschacht und liest vor: « Dies ist die Panik, von der man springt, wenn man springen will.« «Gut, sehr gut gemacht, aber nicht Panik, sondern Parkdeck. Panik ist etwas anderes. Dort steht: Dies ist das Parkdeck, von dem man springt, wenn man springen will.»


8

Die Vermengung / Wellen
Julia Weber / Heinz Helle
Limmat / Suhrkamp 

Liebe Julia, 
bald kommen wir.
B. hat gestern Abend geweint, weil sie dich vermisste. Ich habe einen Nachtzug gebucht. Wir kommen 
frühmorgens an. Und ich bin mir sicher, es wird schön werden, es wird alles gut. Ich bin mir sicher, es wird eine Kunst neben dem Kind und ein Kind in unserem Leben Platz haben. Es ist noch genug Platz. Ich bin mir sicher, weil es bei dir keine Frage danach gibt, ob du Kunst machen sollst oder kannst, weil du sie machen musst, sonst bist du nicht mehr du.
Bis bald
Dein H.

Und in dem Moment, als ich mir gerade ganz sicher bin, dass wir alle verloren sind, dass wir keine Chance haben, den unumkehrbaren Zerfall der menschlichen Gemeinschaft in immer schneller erkaltende 
Individuen aufzuhalten, in dem Moment kommst 
du und nimmst das schreiende Kind aus meinen Armen und gehst zurück ins Schlafzimmer und bald ist es still, und ich schlafe auf der Couch, wache auf, als der Wecker klingelt, wecke unsere erste Tochter B, frühstücke mit ihr, sortiere nebenbei die kleinen Leinensäcke für den Adventskalender, helfe ihr beim Anziehen, frage, was sie in den Kalender möchte, Spielsachen oder Süssigkeiten, sie sagt:


9

Blutbuch
Kim de l’Horizon
Dumont

Es ist wieder Samstag, es ist schön, also draussen, ich sitze im Sessel neben dem Fenster, du liegst im Bett und schnärchelst. Ich denke mir, dass ich dir das hier eigentlich sagen könnte. Es gäbe die Möglichkeit, jetzt, zu sprechen, ich könnte dir sagen, 
dass ich dich vermisse, mehr, als ich dich kenne. Ich könnte dir die Liste sagen von den Dingen, 
die von dir bleiben werden .. 

Diese Wörter sind immer schon da gewesen, Anwesende, Zeuginnen meines Daseins, verborgene Horte im ansonsten transparenten Körper. Küechli, Fotzelschnittä, Granium, Grr, an, in, um mich. Damals, als ich ein Fremdkörper unter euch unfremden, heimischen Körpern war; damals, als ich eine Pflanze wer, waren diese Wörter schon alt; sie waren schon lange vor dir hier. Aber nun haben sie begonnen, zu verschwinden. Niemensch sagt mehr kömerle oder abläschälä. Meer sagt manchmal noch abläschälä, sie sagt es gespielt, ein Theater, wie mensch ein Bonbon – ein Täfeli – im Mund umdreht, 


10

Unsterblich sind nur die anderen
Simone Buchholz
Suhrkamp Nova

Sie waren müde vom Meer und vom Essen, vom Seegang da draussen, von den Wellen in ihren Köpfen, von den neuen Gesichtern und Stimmen, und Iva hatte Schlagseite im Gehirn, wegen der Tabletten, die inzwischen ihre volle Kraft und – sie musste es zugeben – auch eine gewisse Schönheit entfaltet hatten. Vielleicht war das der Grund, warum sie unbedingt nochmal in die Bar wollte, befor sie zu Bett gingen: Sie fühlte nur, sie dachte Kaum, und sie wollte einfach witer fühlen und noch ein bisschen mehr.

Ola hatte ihr beim Essen erklärt, wie die Tabletten gebaut waren: hochdosierte Tranquilizer, die den diafunktionalen Gleichgewichtssinn zu Boden pressten, und damit der Körper dann nicht nur im Bett lag, war ordentlich Koffein zugesetzt. Im Grunde ein primitives Antidepressivum. Das Zeug sollte aussschliesslich an Bord der MS Rjúkandi erhältlich sein.


11
<

Der Duft der Kiefern
Bianca Schaalburg
avant-Verlag

Im Juni, am Mexikoplatz früh um Sieben.
Edda hatte eine Mitfahrgelegenheit gebucht.
«Herr Hase? Nach Hannover?»
«Jawollchen kommse rin, kleenet Frollein.»
«Ich werde dort meine Schwester Gisela besuchen. Die hat Geburtstag.»
«Ach sehnse, und ick fahr zu ‘ner Beerdigung.»
«Ich freu mich schon, hab sie lange nicht gesehen. Seit sie verheiratet ist.»
«Haha, ick freu mich ooch schon. Danach Kuchen, Schnäpperken!»
«Gehmse ma den Pass rüber, Frollein. Hoffentlich dauert dit nich wieda ewig und drei Stunden!»
Eine Stunde später
«Ausweise!»
«Jaa doch! Kommn schon.»
15 Minuten später
«Dit reinste Hornissennest da!»
«Keene Sorje.»
5 Minuten später
«Edda Schott: Aussteigen!»
«Mitkommen!»

12

Jahre mit Martha
Martin Kordić
S. Fischer

Ich reichte ihr die Hand und half ihr den Steg hoch aus dem Wasser. Frau Gruber stand nun genau vor mit. Sie triefte und tropfte. Ich machte einen Schritt zurück.
»Hoouh«, sagte Frau Gruber ganz leise und lächelte mich an.
»Hoouh«, antwortere ich.
So standen wir nun mitten in der Nacht und in Unterwäsche voreinander auf dem Steg eines Badesees irgendwo in Süddeutschland.
Frau Gruber und ich.
Zwischen unseren Körpern lagen Jahre.
Zwischen unseren Augen lag nichts.
Wasser tropfte von Frau Gruber auf das Holz unter uns. Für ein paar Augenblicke war es das einzige Geräusch, das wir neben unserem Herzschlag hören konnten. Dann berührte ich Frau Grubers Gesicht. Die Wange. Die Sommersprossen. Die borstigen Augenbrauen. Die kleinen Falten überall. Die Segelohren. Den Hals. Frau Gruber drückte ihren Körper fest an meinen. Ihre Haut auf meine. Ihre Brust an meine Ihre Hüfte an meine. Unsere Hände berührten sich. Mit den Fingerspitzen. Mit der ganzen Fläche. Fest umschlossen. Ineinandergelegt. Es war, als stellten wir zum ersten Mal im Leben fest, dass wir überhaupt Hände hatten.


13

Nöd us Zucker
Lidija Burčak
der gesunde Menschenversand

Am Fritig Morge ide Schuel händ alli gfreged: «Hey Lidi, was häsch mit em Andi gmacht?» Mir händ voll grölt. Am 16:00 simmer dänn alli bim Velo-Platz gsi und händ Tschüss gseit, s Endi vode Sek. Ich han am Andi nur welle d Hand geh, aber er hät mich so anezoge und hät mir 3 Küssli gäh.
Ich glaub, ich bin vilicht in Andi verknallt, aber ich weiss nöd, öb er i mich. Die Sach isch komisch… Summerferie! Er isch 10 Tag im Pfadilager, dänn gaht er is Südtirol, die 3. Wuche isch er dihei, aber ich bin die 3. und 4. Wuche weg, Schicksal? Nimmt mi mega Wunder, ob er mir e Charte schriebt.


14

Die Träume anderer Leute
Judith Holofernes
Kiepenheuer &Witsch

Manches, was ich ausprobierte, zeigte keinerlei oder nur kurze Wirkung, anderes funktionierte und funktioniert bis heute. Hier eine wahrscheinlich unvollständige Liste in alphabetischer Reihenfolge. Ein Sternchen bedeutet eindeutigen bis durchschlagenden Erfolg, viele von den anderen Sachen laufen eher unter «Auch irgendwie ganz gut» oder «Pfff, keine Ahnung».:

Abgrenzung, emotionale*; Akupressur*; Akupunktur; Allergospasmin; Apfelessigwasser; Aromatherapie*; Asthmaspray; Aufsteigende Fussbäder*; Auslassungsdiäten*; Autogenes Training*; Ayurveda*; Befeuchtende Nasensprays; Bioresonanz; Buteyko-Atmung*; Cortison; Darmaufbaukur; Durchbeissen; Durchschlafen*; Eigenblut; Eigenurin; Eisenpräparate; EMDR*; Fasten; Feldenkrais; Grinberg-Methode*; Heart-Rate-Variability-Training*; Heiss duschen; Homöopathie; Hypnose*; Hyposensibilisierung; Ibuprofen (grosse Mengen); Ingwer*; Inhalieren; Im Winter abhärten*; Im Winter abhauen*; Intervallfasten; Kalt duschen*; Kein Alhohol, aber kiffen; Kein Alkohol, keine Drogen*; Kein Histamin*; Kein Ibuprofen* (tadaaa, ich bin wohl irgenwie allergisch) ; Kein Kaffee*; Kein Zucker*; Kurkuma-Milch*; Lachyoga*; Manukahonig; Massagen, regelmässig*; Meditation*; Nasenpflaster*; Nasensalben; Nasenspray/kein Nasenspray; Odermenning-Tee*; Osteopathie*; Pilates*; Progressive Muskelentspannung; Psychotherapie*; Salzgrotten; Salzinhalation;, Schwarzkümmelöl; Serotonase-Hemmer*; Symbioflor*; Tageslichtbrille*; Tageslichtlampe*; Tanzen*; Theophyllin; Vitamin-D-Kuren*; Vitaminkuren/Nahrungsmittelergänzungen; Waldbaden*; Wut, ausgedrückt**; Wut, gefühlt*; Yoga*; Zink*; Zistrosentee und -kapseln*


15

Lebenskompliz*innen
Liebe auf Augenhöhe
Nils Pickert
Beltz

Aus dem Vorwort:
… Ehrlich gesagt ist romantische Liebe ganz schön lieblos. Weil sie meint, alles zu überwinden, strengt sie sich nicht richtig an. Schon gar nicht bei der Frage, wer nach so einer Nacht die Fliesen wischt. Dabei wäre genau das ein Liebesdienst an der anderen Person – der vor allem dann leichtfällt, wenn nicht immer der- oder dieselbe für solche Tätigkeiten zuständig sein muss. Wir sollten also endlich Schluss machen mit der romantischen Liebe und ihren protzigen, einfältigen Geschlechterbildern. Wir sollten uns endlich aufraffen und ihr den Laufpass geben: So schön war es gar nicht mit ihr. Und gleichberechtigt schon gar nicht.


16

Voll Aufgedreht!
Gregs Tagebuch 17
Jeff Kinney
Baumhaus

Mittwoch 
Rodrick hat seinen Bandkollegen erzählt, Metallichihuahua sei schon früh ernst genommen worden, weil die Bandmitglieder in der Öffentlichkeit immer so auftraten, als wären sie längst berühmt.

Er sagte, um den Leuten klarzumachen, dass man ein Rockstar ist, müsse man sich auch so ANZIEHEN.

Also wollten sich die Jungs im Einkaufszentrum coole Outfits besorgen. Leider waren die angesagten Klamotten richtig teuer, und die zerrissenen Jeans kosteten doppelt so viel wie die brandneuen. 
Deshalb gingen sie wieder, ohne etwas zu kaufen.

Danach kamen sie zu uns und zerrissen ihre EIGENEN Jeans. Doch als Mom die Hosen in Rodricks Zimmer entdeckte, nähte sie Flicken 
auf die Löcher. Und ich glaube, GEBÜGELT hat sie die Jeans auch noch.


17

längst fällige verwilderung
Simone Lappert
Diogenes

venusäpfel

weisst du noch, ich hab dich gebissen
unterm quittenbaum, um uns die pelzigen früchte,
dellig gelbe planeten, kreuzten unsere leerlaufbahn.
wir haben unsere rücken an der rinde geschürft,
kometen von den zweigen gerüttelt, ein paar verglühten im gras.
ich wünschte, ich hätte gelée gekocht aus diesem tag, 
wenigstens ein kleines glas. dein bart knischt mir noch 
zwischen den zähnen, wenn irgendwo eine quitte bricht.


18

Rebel Plants
Wie Pflanzen unser Überleben sichern können
Valerie Jarolim
Löwenzahn

Pflanzen sind bezaubernd, und das ist vielleicht genau das richtige Wort dafür. Denn sie sind es, die unser Leben auf dem Planeten ermöglichen. Aber ganz abgesehen von diesen oft sehr abstrakten Vorstellungen versuche ich, Pflanzen jeden Tag in mein Leben einzubinden.



19

Jeden Tag Spaghetti
Lucia Zamolo
Bohem

«Naja. Ihr Name klingt nun mal nicht wie von hier…»
«Ok, aber der Name Kevin z.B. auch nicht und fragst du da auch nach?»
«Ja, aber sie sieht ja schon auch so aus…»
«Wie sieht sie denn aus?»

Das bin ich. 
Wie ich den beiden zuhöre und -schaue, wie sie darüber streiten, wo ich herkomme, und das Bedürfnis habe, zu sagen: «Wisst ihr was? Aus meiner Mutter.»
Hab ich aber nur gedacht und stattdessen gesagt: « Ich muss mal…»



20

Nachmittage
Ferdinand von Schirach
Luchterhand

Zwei Jahre später an einem Wochenende – er arbeitete längst wieder im Spital – fuhr er mit ihr zu einem Bergsee. Sie hatte die Gegend immer gemocht. Sie assen in einem Gasthof, danach gingen sie spazieren. Sie setzten sich auf eine Parkbank und sahen über den See. Er kniete vor ihr. Aus seiner Jackentasche holte er ein Schmuckkästchen und klappte es auf.
»Willst du meine Frau werden?« sagte er. 
Er sah sie von unten an, seine schönen, für einen Mann zu langen Wimpern, seine hellblauen Augen waren feucht, sein Mund war ein wenig geöffnet. 
Sie hatte noch nie einen so schönen Ring gesehen, ein Weissgold gefasster Saphir in der Farbe ihrer Augen. Sie hatte gewonnen, es war der Höhepunkt ihres bisherigen Lebens. Sie strich über seinen Kopf, wie man einem Hund über den Kopf streicht, und sagte: »Nein.«


21


Hard Land
Benedict Wells
Diogenes

Sie musterte mich erst unsicher, dann holte sie das Notizbuch heraus. Es war prall, zerfranst und wirkte mit dem dunkelroten Ledereinband wie ein uralter Schatz. Die meisten Seiten waren dicht und in mikroskopisch kleiner Schrift beschrieben. Sie erzählte, dass sie seit ihrer Kindheit die interessantesten und wichtigsten Dinge aufschrieb, die jemand in ihrer Gegenwart sagte – und zwar mit Namen und Datum. »So kann ich immer sehen, wer mich in all den Jahren am meisten beeinflusst hat.
«Ich wollte unbedingt ein paar Sachen daraus hören. Sie rollte mit ihrem Stuhl neben mich, und mir war sehr wohl bewusst, dass unsere Knie sich nun berührten. Dann nahm sie eine der Kerzen als Licht und las mir ein paar der Gedanke vor, die sie als Kind aufgeschrieben hatte und die so eigenartig waren, dass wir immer wieder lachen mussten (in der ersten Klasse hatte ihr ein Mitschüler anvertraut: »Ich hab total Angst, so zu werden, wie ich bin!«). Sie las aber auch das, was ihr Vater mal angetrunken nach einer Geburtstagsparty zu ihr gesagt hatte: »Früher war alles viel schwerer, und trotzdem fühlte ich mich damals leichter.«


22

Ingeborg Bachmann
Max Frisch
»Wir haben es nicht gut gemacht.«
Der Briefwechsel
Piper Suhrkamp

14 – 1 – 63
Lieber Max,
beim Ordnungmachen heute habe ich einen Brief gefunden, den ich damals wahrscheinlich (nicht) abgeschickt habe an Cheryl. Vielleicht kannst du ihn ihr geben und, wenn er auch schon schimmlig geworden ist, ihr erklären, dass es bei mir manchmal Pannen gibt beim Absenden der Briefe, die ich schreibe. So wie ja auch du die meisten nie bekommen hast. Das ist wahrscheinlich das wahre Brief-Zeitalter, in dem man die Briefe zwar schreibt, aber nicht absendet und meistens auch nicht einmal für sich selber behält. Ein Beweis zu nichts. 
Es gefällt mir sogar.


23


Schlangen im Garten
Stefanie vor Schulte
Diogenes

Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. 
Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe.
Die Kinder müssen die Seiten zerreissen. Anders ist es nicht zu schaffen. Sorgfältig erst längs, dann in immer kleinere Fetzen. Sie lassen das Papier wie Mehl auf die Arbeitsplatte rieseln, mengen es unter Mandeln und Öl, backen Kuchen oder Quiche. 
Linne ist zwölf und Micha elf Jahre alt. Steve bereits ausgezogen, jetzt zurückgekehrt, zwanzig Jahre alt. Er passt auf, dass niemand etwas liest. Sie haben es versprochen. Aber kaum, dass Steve den Vater zum Essen ruft, mehrmals rufen, manchmal auch zum Arbeitszimmer gehen und klopfen muss, steckt sich Linne einen Streifen liegen gebliebenes Papier in die Hosentasche. Mal ergattert sie nur ein Stück. Mal eine viertel Seite. Dann wieder nur Buchstabenreste.


24


Ich hab da so ein Gefühl
Katharina Grossmann-Hensel
Annette Betz Ueberreuter Verlag

Andere werden auch wütend. 
Meine Mama zum Beispiel.
Ich kann es sehr gut erkennen. Nicht nur an ihrer Stimme.

Erwachsene haben also auch Gefühle.
Ob ihre Gefühle noch grösser sind, weil es in ihren Körpern mehr Platz dafür gibt? Ich habe noch nie gesehen, dass Erwachsene sich 
auf den Boden werfen, um zu bekommen, was sie wollen.

Ich habe damit ja auch aufgehört.
Na ja. FAST.