jeden Tag 1 Illustration von
Debora Gerber
Sarah Büchel
Marisa Meroni
Peter Lüthy
zu einer Textstelle in unseren Favoritenbüchern 2024
- Das dünne Pferd – Stefanie vor Schulte, Diogenes
S. 237/238
»Wir haben das Wasser gezähmt, Schulman«, sagt Hayden schliesslich. Sie zündet sich eine Zigarette an und massiert sich den Nacken.
Marion und die anderen Frauen treten nun ebenfalls an den Rand und schauen hinab. »So sieht es also aus. Das Ende«, sagt Marion. »Es tut mir leid«, sagt Aria tonlos, als wäre es allein ihre Schuld. »Ich finde die Farbe ja schwierig«, sagt Hayden unvermittelt. »Ich meine, neongrün? Im Ernst?«
2. Nora oder Brenn Oslo brenn – Johanna Frid, Secession
S. 187
Ich wollte so nah bei ihr liegen, dass die Luft, die wir ein- und ausatmen würden, dieselbe wäre. Dass die Sommersprossen in unseren Gesichtern sich vermischten, sodass niemand sehen könnte, welche zu wem gehörten. Wie einen noch lebenden Teil abschneiden?
3. Revolution der Verbundenheit – Franziska Schutzbach, Droemer
S. 244
Entwurf einer alternativen Gesellschaft basiert auf der Praxis starker Beziehungen zwischen Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen. Die Beziehung wird zum Sinnbild der Revolution. Beziehung ist das Gegenmodell zur patriarchalen Welt der Vereinzelung, Konkurrenz, Ausbeutung und der Herrschaft über andere. Wenn es gelingende Beziehungen zwischen Frauen gibt, entstehen daraus echte Gegenentwürfe zur bestehenden Gesellschaft.
4. Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung – Barbara Yelin, Reprodukt
»Grosses Auto!«
»Ja!«
»Mein Auto, das ist mein Mann und meine Beine.«
»Möchtest du auch einen Kaffee?«
5. Antichristie – Mithu Sanyal, Hanser
S. 188
Aus Durgas Augenwinkeln sah ich mich unauffällig um und versuchte herauszufinden, was gerade passierte. Antwort: Nicht besonders viel. Anscheinend war gerade Pause. Wie ein Fehldruck folgte ich Durga in die Teeküche. Sobald sie unbeobachtet war, dachte ich: Heb die Hand. Und sie hob die Hand. Was jetzt?
6. Pi Mal Daumen – Alina Bronsky, Kiepenheuer & Witsch
S. 12
Alles, was man brauche, müsse man neu lernen, hatte Mister Brown gesagt. Man müsse bereit sein, seinen Kopf neu zu formatieren. Im Mathestudium mit Schulwissen anzukommen war, als wollte man mit einer Sandkastenschaufel versuchen, einen See auszugraben. Man begriff, dass man in all den Schuljahren um das richtige Werkzeug betrogen worden war, und wollte am liebsten die Schule abfackeln.
7. Schwindel – Hengameh Yaghoobifarah, Blumenbar
S. 29
zählt es überhaupt
als weinen
wenn man die tränen
gar nicht auf
der haut spürt?
8. Das Orakel spricht – Liv Strömquist, avant
1. Verlier die Kontrolle über dein Befinden
2. Verlier die Kontrolle über deinen Körper
3. Verlier die Kontrolle über dein Liebesleben
4. Folge keinem Rat
5. Gib anderen mehr als du selbst bekommst
6. Habe keine persönlichen Ziele
7. Geh raus
9. Glück – Jackie Thomae, Claassen
S. 344
Ich habe meinen Abschiedsschmerz fast hinter mir. Abschied von der Idee, Mutter zu sein. Er hat von allein aufgehört. Womit ich nicht gerechnet hätte. Und das möchte ich nicht mehr hergeben. Es ist eigenartig, denn es ist ein Nichts, das ich nicht mehr hergeben möchte.
10. Wenn ich nicht Urlaub mache, macht es jemand anderes – Giulia Becker, Rowohlt
S. 128
Immer wieder höre ich aus der Katzen-Community, dass Hunde «ein bisschen blöd» sind und nicht – wie Katzen – über «einen eigensinnigen Charakter» verfügen. Mit diesem bösen Vorurteil möchte ich aufräumen. Auch Katzen sind ein bisschen blöd. Zugegeben: Meine bisherigen Begegnungen mit Katzen waren allesamt völlig in Ordnung. Es gehört ein eiserner Wille dazu sich neun Leben lang den eigenen Anus sauber zu lecken. Ich respektiere das. Aber deswegen direkt ein eigenes Musical? Prätentiös.
11. Eines Tages wachte ich auf und merkte, dass ich eine Wolke war – Désirée Scheidegger, Knapp
S. 29
Als Claude zum Margritli-Park kam, wartete Silas schon mit der Freitagsbox auf ihn. Claude warf kurz einen Blick rein. Keine Oliven. Keine scharfe Salsa. Kein Kopfsalat. Ein extra braunes Gemüsetätschli dazu. Genug Mayonnaise. Perfekt. Auf Silas war einfach Verlass. Wenn Silas eine Pflanze wäre, wäre er eine Tilia tomentosa, eine Silber-Linde.
12. Malnata – Beatrice Salvioni, Penguin
S.111
Die Schatten der Brücke und der Häuser am Ufer hatten sich so weit ausgedehnt, dass das Flussbett fast vollständig im Dunklen lag. Nach wie vor in den Armen der Malnata, merkte ich plötzlich, dass ich zitterte.
»Lass uns in die Sonne gehen. Sonst werden wir nicht trocken«, sagte sie. Ihre Finger, die sich mit meinen verschränkten, liessen eine plötzliche Wärme in mir aufsteigen, die sich in meinem Nacken zusammenballte.
Wir streckten uns in dem einzigen verbliebenen Lichtstreifen am Ufer auf den harten Kieselsteinen aus, schlossen die Augen und verschnauften, während das Wasser auf unserer Haut Tropfen bildete, an unseren Schläfen hinunterlief und sich in den Kuhlen unserer reglosen Körper sammelte.
13. Man kann auch in die Höhe fallen – Joachim Meyerhoff, Kiepenheuer & Witsch
S. 11
Die auf dem Sofa verbrachten Stunden nahmen bizarre Formen an, und oft wusste ich nicht mehr, wo ich aufhörte und die Couch begann. Wie ein geschmolzener Käse war ich in jede Ritze des Sofas hineingeflossen, hatte das Sitzmöbel mit mir selbst überbacken
14. Reise nach Laredo – Arno Geiger, Hanser
S. 10/11
, das Waschen sei ein Vergnügen, das man jederzeit den andern überlassen solle, es sei nichts, was das Dasein verlange. Doch Karl, der seit Wochen nur mit Puder abgerieben worden war, … er liess es sich nicht ausreden. Lieber wolle er, was an ihm sterblich sei, waschen, als diesen Geruch den ganzen Tag hinter sich herzuziehen wie eine Fahne. Und natürlich, es war etwas dran, es stieg ein starker Geruch von Karls Haut auf, ein Geruch, bei dem man meinen konnte, da schwitze einer die Alpträume aus, die er in der Nacht geträumt hat.
15. E.E. – Olga Tokarczuk, Kampa
S. 10
In der Dunkelheit, in die nur der trübe Lichtschein der Strassenlaternen fiel, wirkte das Zimmer der Mutter wie mit Puder bestäubt. Das breite Bett war in der Mitte eingesunken, in dieser Mulde lag Erna und blickte an die Zimmerdecke, an der Risse und Schatten spielten. Reglos lauschte sie auf die Uhr im Korridor, die mit ihrem regelmässigen Ticken die Stille in kleine Kügelchen teilte.
16. Unten im Tal – Paolo Cognetti, Penguin
S.126
Die Birke, obwohl verletzt,
bewaffnete sich nicht wie die anderen,
ein Zeichen nicht von Feigheit,
sondern von hohem Stand.
17. Die vorletzte Frau – Sonja Oskamp, park ullstein
S. 134
Tosch war krank und gesund zugleich.
In diesem Zwiespalt lebten wir, und es war mitunter nicht einfach herauszufinden, mit welchem der beiden Toschs ich gerade sprach. Mit dem, der aufhörte? Oder mit dem, der anfing?
18. Favorita – Michelle Steinbeck, park ullstein
S. 166
In mir ist es seltsam ruhig. Als wäre ein Schalter umgelegt worden. Ein Leben lang wurde ich darauf trainiert, einer Situation wie dieser vorzubeugen. Nichts annehmen von fremden Leuten. Stets die Knie zusammenhalten. Schrei nicht rum. Benimm dich wie eine Dame. Zieh dich anständig an. Schuhe, in denen du rennen kannst.
19. Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne – Saša Stanisić, Luchterhand
S. 47
Georg Horvath steht vor den Mülltonnen im Hof und zögert Ist das Piraten-Memory Restmüll oder Gelbe Tonne, oder ist das Piraten-Memory Papier?
Lange Zeit nahm es Georg Horvath mit der Mülltrennung nicht so genau wie Regina. Regina hat mal den Doppelkekszylinder aus dem Papierkorb in seinem (!) Arbeitszimmer rausgefischt und dabei nicht etwa gesagt: »Der Planet geht unter, und du wirfst den in den Papierkorb«, und trotzdem wusste Georg, dass sie genau das dachte, während sie ihm den Doppelkekszylinder, ohne was zu sagen, sprich vielsagend, zeigte. Das ist Telepathie unter lange Verheirateten, sollte man mal wissenschaftlich untersuchen. Fakt ist: Georg Horvath muss sofort was naschen, wenn er eine Excel-Datei öffnet.
20. Küchengespräche, Wer kocht, putzt, wäscht und tröstet, Rotpunktverlag
S.93 Sebastian nickt. Männer seien da «mentalitätsmässig träger». Er kenne kaum Väter, die wie er ihre Kleinkinder betreut hätten, aber viele, die sich mit ihrem «Papitag» brüsteten. »Papitag – ich kann es nicht mehr hören. Redet jemand von Mamitag?«
21. Mitte des Lebens – Barbara Bleisch, Hanser
S. 152
In den mittleren Jahren haben wir hinreichend viele Erfahrungen machen können, um zu wissen, dass Dinge selten so sind, wie wir dachten, und dass auch die stärksten Gewissheiten einreissen können. Die Ironie als ein Gespür für die Kluft zwischen Wissensanspruch und tatsächlich einlösbarem Wissensgehalt immunisiert gegen Grössenwahn und Überheblichkeit.
22. Verlassene Orte – Cal Flyn, Naturkunden
S. 174
Nicht alles ist vergessen. In der Nähe von Fort Douaumont befindet sich ein riesiges Beinhaus. Man nennt es auch Ossuarium: aus dem Lateinischen ossuārius, eine Urne für die Gebeine der Toten. Eine Gedenkhalle, um die sterblichen Überreste von 130 000 Männern aufzunehmen. Ungefähr. Fenster ins Innere des Gebäudes offenbaren die Ausmasse des Chaos, die Unmöglichkeit, jemals wirklich sicher zu sein. Schädel liegen auf Schädel gehäuft. Oberschenkelknochen stapeln sich wie Holz am Wegesrand. Schädelknochen, Schulterblätter, Beckengürtel – das Gerippe des Menschen in seine Einzelteile zerlegt.
23. Auf allen Vieren – Miranda July, Kiepenheuer & Witsch
S.388
Arschloch, flüsterte ich. Ich meinte das Leben selbst. Kam immer mit irgendwas Neuem um die Ecke, immer mit etwas Unerwartetem. Zimmer 321 war die Höhle, und ich bewachte sie. Ich hatte mir einen gottv……n Mutterleib erschaffen, und einmal pro Woche durfte ich darin im Einklang sein. Mit mir selbst, mit Gott, mit meinem Freundinnen und manchmal meinen Geliebten. Und er gehörte mir nicht. Weil einem nichst gehört. Gar nichts, nicht einmal der eigene Leib. Alles vergeht. Aber ich konnte jeden Mittwoch dorthin zurück, mit oder ohne Lust, und – wie nannte man das noch mal?
Frei sein.
24. Dieser Garten – Mely Kiyak, mikrotext
S.16
Sie liess für ihr Rezept der schnellen Umwandlung von Kompost in Humus den ganzen magischen Kram weg, und vermischte stattdessen die getrockneten, pulverisierten Kräuter. Sie rührte womöglich nach der feinen englischen, aber keinesfalls anthroposophischen Art. Das Rezept beinhaltete unter anderem getrocknete Brennnesseln und Schafgarbe vermischt mit Honig und Wasser,